Ein juristisches Positionspapier
| von RA Benno Reinhardt
1. Die Aufhebung des Vergabeverfahrens ist möglich.
Die Länder Berlin und Brandenburg sind nicht gezwungen, an der initiierten Ausschreibung festzuhalten, wenn sie hierfür sachgerechte Gründe haben. Dies ergibt sich aus § 63 Absatz 1 Satz 2 der Vergabeverordnung (VgV): »Im Übrigen ist der öffentliche Auftraggeber grundsätzlich nicht verpflichtet, den Zuschlag zu erteilen.«
Dies gilt auch und gerade dann, wenn andere zulässige Gründe für eine Aufhebung im Sinne des § 63 Absatz 1 Satz 1 VgV – wie zum Beispiel ein fehlendes wirtschaftliches Angebot – nicht vorliegen. Wenn der öffentliche Auftraggeber am Beschaffungsvorhaben insgesamt nicht mehr festhält und/oder er sich politisch neu orientieren will, soll er nicht gezwungen werden, den Auftrag zu erteilen.
Das Gesetz berücksichtigt, dass gerade bei langwierigen Vergabeverfahren sich die politische Grundstimmung ändern kann. Was zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Ausschreibung noch als richtig bewertet wurde, kann sich einige Zeit später als falsch herausstellen. § 63 Absatz 1 Satz 2 VgV erlaubt daher ohne weiteres den Abbruch der Ausschreibung.
Die betroffenen Bieter sind nicht schutzlos. Sie haben in diesem Fall einen Anspruch auf Ersatz der entstandenen Kosten und im Einzelfall – wenn der Auftraggeber die Vergabe willkürlich aufhebt – einen einklagbaren Anspruch auf Fortsetzung der Ausschreibung.
Die Rechtsprechung diskutiert einen solchen Anspruch auf Fortsetzung der Vergabe für die Fälle, in denen die Aufhebung in rechtlich zu missbilligender Absicht erfolgt. Eine solche Absicht ist dann anzunehmen, wenn die Länder nach Aufhebung der Vergabe an der Beschaffung unverändert festhalten und nur die Möglichkeit schaffen möchten, den Auftrag außerhalb des Verfahrens an einen bestimmten Bieter zu vergeben (sogenannte Scheinaufhebung).
Eine Scheinaufhebung liegt nicht vor. Es ginge im Gegenteil darum, die Beschaffung am Markt aufzugeben und den S Bahn-Verkehr weitestgehend unter Kontrolle der Länder selbst zu erbringen. Hierzu ist eine Pause für ergebnisoffene neue Überlegungen und andere politische Weichenstellungen notwendig sowie die Erarbeitung eines Konzeptes, nach dem die Länder die Leistungen durch eine Anstalt des öffentlichen Rechts oder aber durch eine von den Ländern kontrollierte S Bahn GmbH erbringen. In diesem Fall erfolgt die Aufhebung der Vergabe nicht willkürlich. Kein Bieter hat einen Anspruch auf Fortsetzung des Vergabeverfahrens. Die Länder Berlin und Brandenburg haben damit die rechtliche Möglichkeit, über die Zukunft der S Bahn neu zu befinden.
2. Bieter können als Ersatz nur die bisher entstandenen Aufwendungen verlangen.
Jeder Bieter kann aufgrund einer gegen § 63 Absatz 1 Satz 1 VgV verstoßenden Aufhebung der Ausschreibung Schadensersatz beanspruchen. Rechtsgrundlage für einen solchen Ersatzanspruch ist § 181 Satz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB). Hiernach besteht ein Anspruch der Bieter auf Ersatz der Kosten für die Vorbereitung des Angebots und die Teilnahme an dem abgebrochenen Vergabeverfahren (sogenanntes negatives Interesse).
Diese Kostenpositionen sind zu berechnen. Im Ergebnis zeigt sich, dass eine Aufhebung der Vergabe auch unter Berücksichtigung dieser Kosten vertretbar ist. Es handelt sich insgesamt um ein Auftragsvolumen von über acht Milliarden Euro, bei den bisher entstandenen Kosten dagegen um einen Bruchteil dieser Summe. Eine Neuorientierung, die andere Einsparvolumina ermöglicht, ist damit auch aus haushaltsrechtlicher Sicht zulässig und möglich.
Einen Anspruch auf Ersatz des entgangenen Gewinns (sogenanntes positives Interesse) können die Bieter nicht geltend machen, weil die Aufhebung der Ausschreibung keinen Bieter einseitig in rechtlich vorwerfbarer Weise benachteiligt.
3. Nach Aufhebung der Ausschreibung ergeben sich für die Länder Berlin und Brandenburg mehrere Optionen.
Die Übertragung des Betriebes an landeseigene Betriebe ist als Inhouse-Geschäft vergabefrei zulässig. Die Details sind im § 108 GWB festgelegt und geben das weitere Verfahren vor. Bei einem Inhouse-Geschäft handelt es sich nicht – wie bisher vorgesehen – um eine Beschaffung der Leistungen am Markt und eine Erbringung der Leistung durch fremde Dritte, sondern um den Einsatz landeseigener Anstalten des öffentlichen Rechts oder vom Land kontrollierter Gesellschaften zur Erbringung des S Bahn-Verkehrs.
Auch eine weitere Beteiligung der Deutschen Bahn AG an einer umstrukturierten GmbH wäre möglich. Entscheidend ist, dass diese S Bahn GmbH nicht mehr von der Deutschen Bahn AG, sondern von den Ländern Berlin und Brandenburg strategisch gesteuert wird und im Wesentlichen nicht am Markt, sondern nur für diese Länder tätig wird. Hierauf kommt es an. Unter diesen Voraussetzungen könnten die Deutsche Bahn AG und der Bund als öffentlicher Kapitalgeber auch am S Bahn-Verkehr in Berlin und Brandenburg weiterhin beteiligt sein.
Das ausführliche Positionspapier ist ab 22. Juni 2021 unter dem nebenstehenden Link abrufbar.
Copyright und Erstveröffentlichung in: Sonderzeitung gegen die Berliner S-Bahn-Privatisierung, herausgegeben vom Aktionsbündnis EINE S-Bahn für ALLE als taz-Beilage am 22. Juni 2021, www.eine-s-bahn-fuer-alle.de